Dystopien sind keine Kulisse – warum wir das düsterste Genre der Jugendliteratur ernster nehmen sollten
- Tanja Bädecker
- 25. Mai
- 4 Min. Lesezeit

Ich habe nichts gegen Spannung. Ich liebe Abenteuer. Ich habe selbst Abenteuerromane geschrieben, die Leser*innen nach Ostafrika und Madagaskar mitnehmen und ihnen die Spur vergessener Träume zeigen. Aber eines irritiert mich zunehmend: die kitschige Lust an der Apokalypse.
Seit einigen Jahren erlebt die dystopische Jugendliteratur eine Hochkonjunktur – zumindest oberflächlich betrachtet. Die Regale sind voll von Romanen, die in angeblich düsteren Zukunftswelten spielen. Doch was dort oft als Dystopie verkauft wird, ist meist bloß ein stilisiertes Action-Setting mit schnell konsumierbaren Gut-Böse-Schemata, fragwürdiger Ästhetik sowie – und das stört mich besonders – jugendlichen Figuren, die in ihrer Überhöhung nichts mehr mit der Wirklichkeit zu tun haben.
Von der Warnung zur Wunschmaschine
Das ursprüngliche Wesen der Dystopie war politisch. Romane wie „1984” von George Orwell, „Schöne neue Welt” von Aldous Huxley oder „Fahrenheit 451” von Ray Bradbury waren keine Eskapismusfantasien. Sie waren literarische Alarme. Sie zeigten, wie leicht Freiheit in Sicherheit umschlägt, wie Sprache zur Waffe wird und wie Kultur sich selbst aufgibt. Diese Bücher waren unbequem, beängstigend und entlarvend, weil sie der Gegenwart einen Zerrspiegel vorhielten.
Und heute? In vielen aktuellen Jugenddystopien wird das Politische zur Kulisse. Die Regimes sind brutal, aber schematisch. Die Widerstandsgruppen sind cool, aber klischeehaft. Die Held*innen sind oft jung, schön, rebellisch und haben eine überlebensgroße Mission. Reihen wie „Die Tribute von Panem“, „Uglies“, „Divergent“ oder „Legend“ sind Beispiele hierfür. Sie alle haben interessante Grundideen, scheitern aber an der Reduktion. Was als Gesellschaftskritik beginnt, endet häufig als Heldinnenerzählung mit Romantikrahmen.
Das Problem daran ist nicht, dass junge Menschen heldenhaft sein (und sich verlieben) wollen. Das ist verständlich und wichtig. Die Vorstellung, dass 17-Jährige in Gladiatorenarenen faschistoide Systeme stürzen, trivialisiert jedoch die politische Realität. Sie ist eine gefährliche Vereinfachung. In der realen Welt gelingt es selbst Erwachsenen nur selten, gut organisierte, gewalttätige Regime zu stürzen – und das auch nicht allein durch Mut, Instinkt und etwas Pfeil-und-Bogen-Praxis.
Held*innen ohne Bodenhaftung
Was mir fehlt, ist die Glaubwürdigkeit. Auch in fiktionalen Welten brauchen Figuren eine innere Logik und Rebellion braucht einen Kontext. In vielen dieser Bücher fehlt beides. Jugendliche Leser*innen, die gerade beginnen, die Welt kritisch zu betrachten, werden mit schwarz-weißen Machtbildern abgespeist. Schlimmer noch ist das unausgesprochene Versprechen, dass individuelle Tapferkeit ausreicht, um kollektive Systeme zu kippen. Es wird suggeriert, dass ein paar gute Freunde, ein bisschen Technik und eine rebellische Pose ausreichen, um jahrzehntelange Unterdrückung zu beenden.
Darf ich auch darauf hinweisen, dass die erwachsenen Held*innen aus „1984“, „Schöne neue Welt“ und „Fahrenheit 451“ ihre jeweiligen Diktaturen ebenfalls nicht zum Einsturz gebracht haben? Heute gilt es, den Anfängen zu wehren. Sobald solche Regime die Macht an sich gerissen und ihre Sicherheitsorgane ausgebaut haben, ist es meist zu spät. Widerstand ist eine ernsthafte Angelegenheit und keine Fantasiewelt. Bei allem Respekt für meine Münchner Mitbürger*innen Hans und Sophie Scholl: Die Nazis wurden nicht von Teenagern gestürzt, sondern von einer riesigen internationalen Militärkoalition.
Die Wirklichkeit sieht nun einmal anders aus. Diktaturen werden nicht durch einzelne Heldenfiguren gestürzt, sondern durch Bewegungen. Durch Geduld, Organisation, Gefahr und Rückschläge. Und oft scheitert selbst das. Wer heute in Hongkong, im Iran oder in Belarus auf die Straße geht, riskiert alles – und wird oft nicht erhört. Die Welt ist ungerecht. Und sie wird nicht gerechter durch dramaturgische Abkürzungen.
Warum wir Dystopien trotzdem brauchen – gerade jetzt
Und doch glaube ich: Wir brauchen die Dystopie. Mehr denn je. Aber wir brauchen sie nicht als Stuntshow, sondern als Denkraum.
Wir leben in einer Zeit realer dystopischer Tendenzen: Digitale Überwachung ist längst Normalität. In vielen Ländern wird die Demokratie systematisch untergraben. Desinformation ersetzt Debatte. Rechte und religiöse Bewegungen instrumentalisieren Sprache, Geschichte und Biologie. Der Planet erhitzt sich – mit Rückendeckung mächtiger Lobbys. Die Kluft zwischen Arm und Reich wächst in groteskem Ausmaß. Und die großen Tech-Konzerne wirken mitunter wie eigene Mikronationen, die gegen jede Form demokratischer Kontrolle immun sind.
Warum verharmlosen wir also das Genre, das uns dabei helfen könnte, solche Entwicklungen sichtbar zu machen? Warum benutzen wir Dystopien als Bühne für romantisierte Gewaltspektakel, statt sie als literarisches Labor zu nutzen, in dem wir unser eigenes Handeln und unsere kollektiven Ängste reflektieren könnten?
Verzweifelt noch mehr!
Die derzeitige Verbreitung dystopischer Ideen in der Erwachsenen- und Jugendliteratur ist jedoch ein Symptom für ein noch größeres Problem: unsere Unfähigkeit, uns eine bessere oder gar demokratische gemeinsame Zukunft vorzustellen. Wie die Historikerin und Journalistin Jill Lepore in ihrer Analyse aktueller dystopischer Romane beschreibt: „Dystopie war früher eine Fiktion des Widerstands; heute ist sie eine Fiktion der Unterwerfung, die Fiktion eines misstrauischen, einsamen und mürrischen 21. Jahrhunderts, die Fiktion von Fake News und ‚Infowars‘, die Fiktion von Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit. Sie kann sich keine bessere Zukunft vorstellen und fordert niemanden auf, sich um eine solche zu bemühen. Sie pflegt Missstände und schürt Ressentiments; sie fordert keinen Mut, sondern findet, dass Feigheit ausreicht. Ihre einzige Ermahnung lautet: Verzweifelt noch mehr. ... Ob links oder rechts, der radikale Pessimismus eines unerbittlichen Dystopismus hat selbst zum Zerfall des liberalen Staates und zur Schwächung des Bekenntnisses zum politischen Pluralismus beigetragen.“ Im Ernst: Ist das wirklich das Beste, was wir zu bieten haben?
Dystopien als pädagogischer Raum
Ich glaube, wir können wesentlich mehr bieten. Eine intelligente Dystopie zeigt nicht nur, was schiefläuft, sie wiederspiegelt nicht nur unsere heutige Hoffnungslosigkeit, sondern fragt auch, warum es dazu kam. Sie nutzt die Gegenwart als Sprungbrett, nicht als bloße Erinnerung. Sie macht sichtbar, wie sich Strukturen verfestigen, wie sich Sprache verändert und wie Menschen beginnen, sich an Unfreiheit zu gewöhnen.
Ich denke dabei an Bücher wie „The Ones We’re Meant to Find” von Joan He oder „Internment” von Samira Ahmed. Letzteres zeigt ein Amerika, in dem Muslime in Internierungslager gesteckt werden – eine Erzählung, die tief in aktuelle politische Debatten greift. Ein weiteres Beispiel ist „Dry“ von Neal und Jarrod Shusterman, in dem ein Wassermangel in Kalifornien zur Katastrophe führt. Diese Romane sind nicht perfekt, aber sie nehmen ihre Themen ernst. Sie vertrauen den Leser*innen genug, um ihnen unbequeme Wahrheiten zuzumuten.
Was ich mir wünsche:
Ich wünsche mir weniger Dystopien vom Reißbrett und mehr, die sich aus echter Sorge speisen. Ich wünsche mir Autor*innen, die ihre Leser*innen nicht überhöhen, sondern herausfordern. Ich wünsche mir Bücher, die zeigen, dass Widerstand nicht immer triumphiert, aber trotzdem nötig ist. Und ich wünsche mir junge Leser*innen, die das erkennen und zwischen Pose und Protest unterscheiden lernen.
Denn Dystopien sollten keine Flucht sein. Sie sollten ein Weckruf sein. Ein Flackern im Dunkel. Sie sollten uns daran erinnern, dass Freiheit kein Selbstläufer ist und dass es keine Held*innen, sondern Menschen braucht, die sich erinnern, denken und gemeinsam handeln.
Comments